Mercedes Pagode wird 60 Jahre alt -
einst der sicherste Sportwagen der Welt
Ob in Saint-Tropez, Rimini oder Sylt – das elegante Mercedes-Benz SL-Modell der Baureihe W113 machte seinerzeit auf den Pracht-Boulevards der Reichen und Schönen eine herausragende Figur.
In einem im Oktober 1963 erschienenen Bericht der Automobil-Zeitschrift auto motor und sport bewunderte der Tester den neuen Sportwagen 230 SL: „Er sieht aus, als habe man ihn eigens dazu geschaffen, im Modeheft von „Film und Frau“ die Kulisse für Badeanzug- und Nerzbekleidete Mannequins abzugeben…“
Für Normalverdiener blieb der Roadster in den 60er Jahren ein Traum: der Durchschnittsverdienst eines Angestellten lag 1963 bei 648 D-Mark pro Monat (Quelle: Statistisches Bundesamt). Der 230 SL stand aber für 20.600 D-Mark bei den Händlern – fast das dreifache Jahresgehalt.
Aber man darf ja träumen… Auch heute noch. Denn der Klassiker mit dem eigenartig konstruierten Dach, der unter dem Namen Pagode bekannt ist, erfreut sich größter Beliebtheit. 60 Jahre alt wird die Pagode in diesem Jahr.
Grund genug, zum Jubiläum diesen Meilenstein deutscher Automobilkunst zu würdigen, der weltweit für Aufsehen sorgte.
Fahrzeug-Sicherheitsentwickler Béla Barényi (rechts) und Designer Paul Bracq präsentieren den 230 SL auf dem Genfer Auto-Salon (14. bis 24. März 1963).
Premiere und Rekorde
Die Erfolgsgeschichte begann am 14. März 1963 auf dem Genfer Automobilsalon mit einer Weltpremiere. Unter den Augen von 400 Pressevertretern aus aller Welt präsentierte Mercedes den „Tourensportwagen 230 SL“.
Der zweisitzige Roadster galt als gemeinsamer Nachfolger der 9 Jahre zuvor vorgestellten Sportwagen 300 SL (W198) und 190 SL (W121). Anspruch der Mercedes-Ingenieure: der 230 SL sollte herausragenden Komfort, exzellente Fahrleistungen und vorbildliche Fahrsicherheit garantieren.
Und er sollte in den für damalige Verhältnisse noch exklusiven Club der 200 km/h-Autos aufgenommen werden. Weitere Besonderheit: Der 230 SL war der weltweit erste Sportwagen mit einer Sicherheitskarosserie, die aus steifer Fahrgastzelle und Knautschzonen an Front und Heck besteht.
Die Form des Dachs ist ein Hingucker. Sie garantierte einen bequemen Einstieg und genug Kopffreiheit für Fahrer und Beifahrer. Nachteil: der schlechte cw-Wert
Dach und Design
Die konkave Form des Dachs (es ist eingewölbt und damit der Form eines Wassertropfens entgegengesetzt) erinnert an fernöstliche Tempelarchitektur. Erfinder war der französische Designer Paul Bracq, der von 1957 bis 1967 bei Mercedes unter Vertrag stand, neben der Pagode auch die Form des 250 S (W 108) und des Strich-Acht (W 114 und W 115) kreierte und sich seit seiner Pensionierung nur noch der Malerei widmete.
Den Beinamen Pagode soll übrigens die französische Sport-Tageszeitung L’Équipe erstmals benutzt haben, als sie am 19. März 1963 über die Fahrzeugpremiere in Genf titelte: "Genéve 1963: An 1 du Style Pagode".
Mercedes versprach sich von der Form eine höhere Stabilität bei gleichzeitig geringerem Gewicht. Den eingangs erwähnte Tester von auto motor und sport konnte diese Argumentation im September 1963 nicht überzeugen, er blieb skeptisch: „Der Sinn der Sache kann nur im modischen Effekt liegen…“
Blick aufs Armaturenbrett einer 280 SL Pagode. Die leichtgängige Servolenkung wurde von den Testjournalisten 1963 gelobt: "...haben noch kein Auto gefahren, das sich so mühelos und exakt dabei lenken ließ."
Lob und Tadel
Die Karosserie saß perfekt wie ein Maßanzug, auch unter der Haube setzten die Sindelfinger auf feinste Technik. Technische Basis des neuen Roadsters war die Oberklassen-Limousine 220 SE (W 111). Verkürzte und verstärkte Rahmenbodenanlage, vorn Einzelradaufhängung an Querlenkern, Schraubenfedern, Querstabilisator, hinten Eingelenk-Pendelachse mit tiefgelegtem Drehpunkt und Schubstreben, vorn und hinten Teleskopstoßdämpfer, Kugelumlauflenkung mit automatischer Nachstellung.
Neu war auch die Bosch Wechselstrom-Lichtmaschine, sie lud auch im Leerlauf die Batterie auf.
Ab Werk war der 230 SL im Premierenjahr 1963 mit einem Viergang-Schaltgetriebe ausgerüstet. Reinhard Seiffert, Journalist von auto motor und sport bemängelte damals: „Das Schalten könnten wir uns freilich – nach 2.000 km auf deutschen Bundestraßen – angenehmer vorstellen, denn Daimler-Benz hat für den 230 SL kein neues Getriebe spendiert; man muss sich darum nach wie vor mit der recht schwergängigen Synchronisierung abplagen und mit dem Schalthebel energisch hantieren.“ Ebenfalls getadelt wurde der per linkem Fuß zu betätigende "antiquierte" Schalter zum Abblenden, der, so Autotester Seiffert, nur deswegen nicht abgeschafft wurde, weil ein "hohes DB-Vorstandsmitglieds" an ihn gewöhnt sei.
Umso mehr Lob gab es dafür für Handling und Servolenkung: „…wir haben noch kein Auto gefahren, das sich so mühelos und dabei exakt lenken ließ.“
So warb Mercedes damals für den neuen Sportwagen in Zeitschriften
Motor und Zylinder
Der auf 2,3 Liter aufgebohrte Reihensechszylinder-Motor im 230 SL leistete 150 PS (110 kW) bei 5500/min und bot bei 4200/min ein Drehmoment von 196 Nm. Ab 1966 wurde der 250 SL mit 2,5 Litern Hubraum angeboten, der Sechszylinder leistete ebenfalls 150 PS, stellte aber mehr Drehmoment (216 Nm) zur Verfügung.
Die stärkste Motorisierung erfuhr die Pagode mit dem 280 SL (von 1967 bis 1971 gebaut). Der Sechszylinder mit 2,8 Liter Hubraum entwickelte 170 PS und ein Drehmoment von 240 Nm bei 4500 U/Min.
Für den 230 SL gab es anfangs ein manuelles Vierganggetriebe (ab 1966 auch ein Fünfganggetriebe) - oder eine Automatik für 1.400 D-Mark Aufpreis. In den letzten Jahren der Bauzeit (1963 – 1971) orderten 77 Prozent aller Käufer die Automatik für maximalen Fahrkomfort.
Der flotte Roadster sorgte bei der Prominenz für aufsehenerregendes Frischluftvergnügen
Promis und Filme
Zu den prominenten Besitzern einer Pagode gehörten u.a. Schauspieler Tony Curtis, Beatle John Lennon, Hollywood-Star John Travolta, Sir Peter Ustinov oder Film-Diva Sophia Loren. Rennfahrerlegende Juan Manuel Fangio steuerte privat einen W 113, Maurice Gibb von den Bee Gees fuhr im Pagode 280 SL in die Flitterwochen.
Heute genießen Ex-Bundestrainer Jogi Löw, Model Kate Moss oder Ex-Formel 1-Ass David Coulthard ihre Pagoden. In Szene gesetzt wurde die Pagode beispielsweise im Hollywood-Klassiker „Zehn – Die Traum“ (USA, 1979) mit Dudley Moore und Bo Derek oder im deutschen Roadmovie „Knockin‘ on Heaven’s Door“ (1997) mit Til Schweiger, Jan Josef Liefers und Moritz Bleibtreu.
Einzelstück: die von Pininfarina umgebaute Pagode wurde später vom deutschen Verleger Axel Springer erworben
Foto: Bruno von Rotz | zwischengas.com
Aufbauten und Umbauten
Rallye, Kombi, Exportversionen, rare Einzelstücke - die Pagode animierte zum Experimentieren. In einem roten 230 SL mit stärkerem Motor (165 bis 170 PS),
zusätzlichen Ölkühler, verstärktem Fahrwerk, Unterbodenschutz und kurzer Achse ging Rennfahrer Eugen Böhringer 1963 bei der Rallye Spa-Sofia-Lüttich an den Start - und gewann nach 92-stündiger (!) Fahrt.
Der italienische Karosseriebauer Pininfarina bat im Mai 1963 den Mercedes-Vorstand, einen 230 SL kaufen zu dürfen, um ihn nach eigenen Vorstellungen um zubauen. Der Pininfarina 230 SL feierte 1964 beim Autosalon Turin die Premiere. Die Pagoden-Wölbung auf dem Dach war verschwunden, alle Kanten geglättet. Es blieb trotzdem ein Einzelstück, das später in den Besitz von Verleger Axel Springer wechselte.
Ebenfalls in Italien schuf der Turiner Karosseriebauer Pietro Frua auf Basis eines 230 SL einen Sportkombi (Shooting Brake). Das Fahrzeug mit Kombiheck bot deutlich mehr Innenraum. Das Einzelstück soll heute noch in Besitz eines spanischen Sammlers auf Gran Canaria sein.
Eine Version ohne Dach kam in den USA 1967 als Modell "California" auf den Mark. Der 250 SL hatte durch den Wegfall des Verdeckkastens eine größere Sitzbank. Der Schweizer Karl Schaller konstruierte Anfang der 70er aus der Pagode ein praktisches Schrägheck mit großer Heckklappe.
Im Auftrag des damaligen Pkw-Entwicklungschefs und späteren Mercedes-Vorstands Rudolf Uhlenhaut wurde der Pagode der V8 Motor (M 100) aus dem Mercedes 600 verpflanzt. Resultat: 6,3 Liter Hubraum, 250 PS, irre Rundenzeiten auf dem Nürburgring, aber ein Verbrauch zwischen 21,7 und 36,2 Litern pro 100 km. Das Unikat wurde später verschrottet. (dr)
Die rote Pagode von Eugen Böhringer. Mit ihr gewann er bei der Rallye Spa-Sofia-Lüttich.
Preise und Kosten
Der 230 SL kostete bei Markteinführung 20.950 D-Mark als Coupé oder 20.600 D-Mark als Roadster.
Die Aufpreisliste sah folgende Extras vor:
- Coupé-Dach für Roadster: 1.100 D-Mark
- Servolenkung: 550 D-Mark
- Automatikgetriebe: 1.400 D-Mark
Heute notieren Pagoden bei:
- 230 SL: 87.000 Euro (Zustand 2)
- 250 SL: 83.000 Euro (Zustand 2)
- 280 SL: 106.000 Euro (Zustand 2)
Insgesamt 48.912 Exemplare verkaufte Mercedes vom Modell W 113 bis Produktionsende 1971:
- 230 SL (1963 - 1967): 19.831 Stück
- 250 SL (1966 - 1968): 5.196 Stück
- 280 SL (1968 - 1971): 23.885 Stück
Fotos: Mercedes-Benz AG | Bruno von Rotz (zwischengas.com)
Große Party im August
Der Mercedes-Benz SL-Club Pagode e.V. feiert den 60. Geburtstag auf dem internationalen Jahrestreffen vom 10. - 13. August 2023 in Nürnberg. Das bunte Rahmenprogramm u.a.: Besuch des Eisenbahnmuseums und des Museums für Industriekultur, Altstadtrundgang, Workshops, eine Rotbier-Führung, der Besuch der Kaiserburg und Fahrten mit der historischen Straßenbahn.
Anmelden können sich Interessierte hier.
Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:
Großer Auftritt in Psychothriller: Mercedes 450 SEL 6.9
15. April 2020Als „Hot Rod der Banker“ bezeichneten ihn die Amerikaner. Der Mercedes 450 SEL 6.9 galt 1975 als bestes Auto der Welt – so titelte damals die deutsche Fachzeitschrift „auto motor und sport“...
Mehr erfahrenEin Dirigent auf Abwegen - Porsche 959
17. April 2020Dieser Porsche sah irgendwie anders aus. Vorn irgendwie 911er, aber hinten? Dieses ultrabreite Heck mit Spoiler? Der erste Auftritt des Porsche 959 sorgte für Aufsehen. Sowohl optisch, als auch auf dem Datenblatt. Denn ein Blick auf die nackten Zahlen (450 PS, ca. 317 km/h Topspeed) machte unmissverständlich klar: Das war ein echter Supersportwagen!
Mehr erfahren