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Der Mann, der
Autos fühlen kann

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Liebevoll streicht Bernd Röthig über den Kotflügel des bald 42 Jahre alten Skoda aus dem berühmten Werk im mittelböhmischen Mladá Boleslav: „Ein herrliches Auto.“ Er prüft fachmännisch die Technik unter der Motorhaube, seine Handgriffe wirken routiniert, alles sitzt. Kaum zu glauben, dass er eigentlich in völliger Dunkelheit arbeitet. Bernd Röthig ist vermutlich der einzige blinde Autoschrauber Deutschlands. Im OCC-Magazin erzählt der 56-jährige Familienvater, wie er sich trotzdem in seiner Werkstatt zurechtfindet und mit welchen Tricks er sich sogar an die Elektrik von Oldtimern wagt.

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Über 76.000 blinde Menschen leben in Deutschland, die Zahl der Sehbehinderten liegt bei etwa einer halben Million Personen (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019). Aber wohl keiner der Betroffenen hat so ein ausgefallenes Hobby wie Bernd Röthig aus Leipzig: Oldtimer reparieren, speziell Fahrzeuge aus DDR-Produktion und seit neuestem auch sowjetischer Bauart.

"Ich bin nichts Besonderes, ich höre nur anders"

Das erregt Aufsehen. Doch Bernd Röthig sieht sich nicht als etwas Besonderes: „Wenn ein Sinnesorgan ausfällt, werden nicht belegte Areale mit genutzt, um den Ausfall zu kompensieren. Ich kann zum Beispiel nicht besser hören, aber ich höre bestimmte Dinge anders als Menschen, die nicht blind sind. Genauso ist das mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen. Ein kleines Beispiel: Du läufst an einer Hausmauer entlang, einmal mit Abstand, einmal ohne. Plötzlich hört man die Schritte, den Abstand und weiß, da ist ein Hindernis, ein Haus. Insofern ist das kein großes Problem für mich. Ich möchte so normal wie alle anderen behandelt werden, brauche keine Extrawurst“, erklärt er bescheiden.

Mit 12 Jahren erblindet

Als 4-Jähriger erkrankte er an einer Netzhautablösung, mit 12 Jahren erblindete er völlig. Im Jahr 1978 sah er das letzte Mal Fahrzeuge, seit nunmehr 43 Jahren entstehen die Bilder nur noch im Kopf.Ich erfühle und ertaste Autos, fahren mit den Händen die Linien entlang, greife die Scheinwerfer, berühre die Materialien. So entstehen die Bilder im Kopf und ich kann mir das Fahrzeug vorstellen. Nur mit den Farben wird es etwas schwieriger, gerade bei ausgefallenen Lacken.“
Die Leidenschaft für Autos aus der DDR und den Staaten hinter dem ehemaligen eisernen Vorhang kommt von nicht ungefähr. Es waren die prägenden Fahrzeuge seiner Kindheit: die erste Urlaubsfahrt im knatternden Zweitakt-Trabant in den tschechischen Böhmerwald, als 26 PS nicht nur die vierköpfige Familie, sondern auch noch den Anhänger mit obligatorischem Camptourist schleppen mussten: „Das war der berühmte Faltwohnwagen aus DDR-Produktion.“

Erster Trabi kostete 2003 nur 400 Euro

Nach der Schule lernte Bernd Röthig den Beruf des Masseurs, berufsbegleitend kam noch eine Ausbildung zum Physiotherapeuten dazu. Seine Hobby-Schrauberkarriere begann eigentlich mit dem Erwerb eines Trabant 601 Kombi, den er im Jahr 2003 für nur 400 Euro einem Rentner abkaufte (der Wagen ist heute 7.000 Euro wert). „Ich wusste, dass die Trabi-Technik relativ simpel war und wenn man sich nicht ganz blöd anstellt, das auch selbst reparieren kann.“ Er besuchte in Baden-Württemberg ein mehrtägiges Trabi-Schrauberseminar, das ein ehemaliger Ostberliner anbot. Bald schon folgten in der heimischen Garage die ersten Arbeiten an einem Trabant Kübel: „Ich habe bei ihm allein Bremsen, Achsen, Radbremszylinder und Kupplung gewechselt, zudem die Sitze neu bezogen.“
Wie hat er sich die Werkstatt eingerichtet, dass er auch ohne Augenlicht alle Werkzeuge und Ersatzteile sofort findet?


"Ich muss genau wissen, wo was steht"


Bernd Röthig: „Unordnung kann ich mir mit meinem Handicap nicht leisten. Ich muss genau wissen, wo was steht, dann merke ich mir die Standorte. Schwierig wird es nur, wenn mir etwas runterfällt. Zum Beispiel kleine Teile. Beim Kolben-Wechsel hatte ich einen Bolzen rausgeschlagen und wollte dann die Sicherungsringe einfädeln. Da schnippte einer weg, den habe ich nicht wiedergefunden. Seitdem habe ich bei solchen Teilen immer genug Nachschub da.“
Auch für Arbeiten an Zündung und Elektrik hat er kleine Tricks. „Die Kabel kennzeichne ich vor dem Ausbau mit kleinen Fähnchen aus Klebestreifen. Schwarz hat ein Fähnchen, das grüne Kabel zwei und das weißbeige drei, übrig bleibt das Massekabel. Dadurch weiß ich, welche Steckkontakte dran sind. Bei komplizierteren Arbeiten, die zum Beispiel Schaltpläne erfordern, hilft mir aber ein Kumpel.“

Faszination Wolga GAZ M-21


Mehrere der ostdeutschen „Volkswagen“ aus Zwickau hat der Leipziger inzwischen flott gemacht und auch verkauft. Sein derzeitiger Fuhrpark: zwei Trabi Kübel, ein 601 (Baujahr 1986), ein 600 (Baujahr 1965), ein Skoda 120 (Baujahr 1979) und ein Wolga GAZ M-21 aus dem Jahr 1964.
Der fasziniert ihn besonders. „Solche Wolga wurden auch von der DDR-Polizei zu jener Zeit gefahren. Da mein Vater Schutzpolizist war, nahmen mich seine Kollegen oft in so einem Wolga mit und brachten mich in den Sehschwachenkindergarten oder zu meinen Großeltern, wenn mein Vater mal wieder Schichtdienst hatte. Die durchgehenden Sitze vorn im Wolga erinnerten an die Sprungfedercouch von Oma und das blaue Licht auf dem bogenförmigen Armaturenbrett werde ich auch nie vergessen.“

Alle Trabant-Prototypen vernichtet


Er kennt natürlich auch die Geschichten der nie produzierten Prototypen des Trabant 601, die schon in den 60er Jahren den erst 1974 erschienenen Golf I alt aussehen ließen. Doch sozialistische Planwirtschaft, Materialmangel und sture Funktionäre zerstörten diesen Traum ostdeutscher Ingenieure. „Alle Prototypen wurden vernichtet, als das Aus von ganz oben beschlossen wurde. Es existieren nur noch Bilder“, weiß Bernd Röthig: „Es gab sogar Überlegungen, den Trabi mit einem Einscheiben-Wankelmotor und den Wartburg mit einem Zweischeiben-Wankelmotor auszustatten. Auch mit einem Dieselmotor wurde experimentiert. Der wäre aber aufgrund der Lautstärke für die Fahrzeuginsassen nicht zumutbar gewesen.

Der Traum von der eigenen Halle

Die Idee, den Trabi Ende der 80er Jahre mit einem Viertakter von VW auszustatten, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wer wollte
damals diese altbackene Karosserie mit dem Motor kaufen?“ So endete die Geschichte des Trabant nach der Wiedervereinigung mit einer Niederlage. Und wird weitergeschrieben mit der Wiederauferstehung des kleinen Kunststoff-Stinkers in zahlreichen privaten Garagen der Sammler, Liebhaber und Schrauber wie Bernd Röthig. Zufriedenheit, Genugtuung und Glück auf allen Seiten. Hat der sechsfache Familienvater, der mit seiner Frau eine Physiotherapiepraxis betreibt, überhaupt noch Träume? „So eine 80 Quadratmeter große Halle mit Hebebühne wäre herrlich.“ (dr)

Fotos: Bernd Röthig



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